Öffentliche Anhörung am 14.02.2022

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Allgemeines

Am 14. Februar 2022 fand im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung statt, deren Gegenstand die Petition 122600 „Versorgung, Forschung und politische Unterstützung für ME/CFS-Betroffene!“ war. Die Anliegen der Petition, die während der nur vierwöchigen Frist von fast 100.000 Menschen durch ihre Mitzeichnung unterstützt worden sind, wurden in der Sitzung durch Daniel Loy als Hauptpetenten sowie durch Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Charité Universitätsmedizin Berlin, als ausgewiesener Expertin vertreten.

Öffentliche Anhörung zu ME/CFS im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages am 14. Februar 2022. Auf dem Bild im Sitzungssaal sind insbesondere zu sehen: Sebastian Brehm, MdB (erster von links), Expertin Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen (zweite v. l.), Simone Borchardt, MdB (vierte v. l.), die Ausschussvorsitzende Martina Stamm-Fibich, MdB (dritte von rechts) und Hauptpetent Daniel Loy (auf dem Bildschirm in der Mitte).

Wir haben angesichts des Verlaufs der Sitzung sowie der gestellten Fragen den Eindruck gewonnen, dass die große Not und Verzweiflung der vielen ME/CFS-Betroffenen sowie der dringende Handlungsbedarf von unseren Abgeordneten erkannt worden sind. Wir hoffen nun, dass sich der Deutsche Bundestag künftig mit dem gebotenen Nachdruck für eine Verbesserung der aktuell verheerenden Situation einsetzen wird. Die Einlassungen der Bundesregierung lassen uns dagegen befürchten, dass auf Ministeriumsebene insbesondere die tatsächliche Situation der mindestens 250.000 ME/CFS-Betroffenen in Deutschland sowie der Umfang des daraus resultierenden Handlungsbedarfes noch nicht durchgängig zutreffend eingeschätzt werden. Da in der Ausschusssitzung hierzu keine Gelegenheit bestand, haben wir am 24. Februar 2022 daher zu einigen Punkten noch schriftlich Stellung genommen (näher dazu hier).

Vor Beginn der Ausschusssitzung des Deutschen Bundestages zur #SIGNforMECFS-Petition überreichte außerdem die 16-jährige Tochter einer Mitpetentin mehr als 230 persönliche Botschaften von ME/CFS-Betroffenen (wir berichteten am 14. Februar).




Videoaufzeichnung der Anhörung

Die Sitzung wurde in einem Hybridformat durchgeführt und im Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages live übertragen. Eine Aufzeichnung der rund eine Stunde langen Anhörung kann in der Mediathek des Parlamentsfernsehens an dieser Stelle dauerhaft abgerufen werden.

Das Eingangsstatement zur Anhörung ist außerdem auch auf dem YouTube-Kanal von #SIGNforMECFS an dieser Stelle verfügbar.




Transkription: Die Anhörung in Textform

Eine vollständige Transkription der Anhörung im Deutschen Bundestag kann auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V. an dieser Stelle heruntergeladen werden.

Das Eingangsstatement des Hauptpetenten Daniel Loy geben wir im Folgenden in Textform wieder:

Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst gilt Ihnen mein herzlicher Dank für diese Möglichkeit, dass ich heute im Namen der Betroffenen mit Ihnen über ME/CFS sprechen kann, unterstützt durch Frau Professorin Scheibenbogen von der Charité als ausgewiesener Expertin.

Für uns ME/CFS-Betroffene ist diese Anhörung ein ganz besonderes Ereignis. In der Vergangenheit wurde in Medizin und Gesellschaft meist – wenn überhaupt – nur über die ME/CFS-Betroffenen gesprochen, nicht aber mit uns. Heute dagegen hört der Deutsche Bundestag unmittelbar uns zu. Welche Bedeutung das für die vielen Erkrankten hat, die dieser Anhörung jetzt gerade – zum Teil aus ihren Betten heraus – folgen, das kann man von außen wohl kaum ermessen.

Ich will aber versuchen, Ihnen einen Eindruck davon zu vermitteln: Während der Mitzeichnungsfrist erreichte unser kleines Organisationsteam eine Flut von Nachrichten aus allen Teilen des Landes; von den Halligen in der Nordsee, über das Erzgebirge bis zum Schwarzwald an der Schweizer Grenze, aus München wie aus Frankfurt. Darin schilderten uns Betroffene, deren Eltern, Geschwister, Partnerinnen und Partner ihre Verzweiflung und Not. Aber eben auch: Wie sie sich für unsere Petition einsetzen, ganz oft unter gesundheitsbedingt schwierigsten Umständen. Vor allem aber erfuhren wir immer wieder, welche Hoffnung bei vielen Menschen aufkeimte – wegen unserer Petition an den Deutschen Bundestag. Man kann wirklich ohne Übertreibung sagen: Diese Petition ist ein Hilferuf, mit 97.210 Ausrufezeichen!

Meine persönliche ME/CFS-Geschichte begann dabei ausgerechnet mit meinem bislang letzten Aufenthalt in Berlin. Ich besuchte dort im Frühjahr 2006 eine Veranstaltung der Studienstiftung des Deutschen Volkes und infizierte mich währenddessen mit dem Epstein-Barr-Virus. Und seitdem leide ich an ME/CFS. Trotz zahlreicher Arztbesuche wurde mir die Diagnose aber erst 2018 nach einer drastischen Zustandsverschlechterung gestellt, also ganze 12 Jahre später. Seitdem habe ich fast alles verloren, was mein Leben zuvor ausgemacht hat.

Nach Stellung der Diagnose war ich aber eigentlich ganz optimistisch, denn ich sah es so: Natürlich kann man das Pech haben, dass es bis zur richtigen Diagnose mal dauert; aber wenn man das Problem kennt, dann gibt es eine Lösung. In unserem Land wird doch ernsthaft versucht, allen schwerkranken Menschen zu helfen. So dachte ich.

Was ich aber seitdem über ME/CFS und über den Umgang mit dieser Erkrankung gelernt habe, hat diesen Optimismus großem Entsetzen weichen lassen. Ich bin Jurist und als solcher bin ich es ja gewohnt, Aussagen auf ihre Plausibilität zu prüfen. Und ich muss Ihnen sagen: Hätte mir früher jemand die tatsächlichen Zustände in Sachen ME/CFS geschildert: ich hätte das nicht geglaubt.

Ich hätte nicht geglaubt, dass es eine Krankheit gibt, die so gravierend ist, dass man am schweren Ende des Spektrums nicht nur dauerhaft bettlägerig, sondern auf künstliche Ernährung angewiesen, zu Kommunikation nicht mehr in der Lage ist, selbst geringste Sinnesreize wie Licht oder Berührung nicht mehr ertragen werden können, und das Ganze ohne Ende, also ggfls. jahrzehntelang – dass aber zugleich für ME/CFS bis heute keine Behandlungsansätze zugänglich sind und darüber hinaus auch keine Versorgungsstrukturen vorhanden sind, ja, dass viele nicht einmal die dringende Notwendigkeit sehen, dass sich das ändern muss. Weil ME/CFS einfach nicht ernstgenommen wird.
Und das bedeutet insbesondere: schwerkranke Menschen vegetieren zuhause vor sich hin, bekommen keine Unterstützung und wissen sich z. B. nicht anders zu helfen, als in ihrem eigenen Badezimmer zu leben; weil selbst die kürzesten Strecken die geringen Kraftreserven überfordern.

Bitte versetzen Sie sich in die Lage eines durchschnittlichen ME/CFS-Betroffenen: Sie werden auf einmal schwer krank, schwerer vielleicht, als Sie sich das vorher auch nur vorstellen konnten; Sie wenden sich dann hilfesuchend an Ärztinnen und Ärzte, berichten über Ihre vielen quälenden Symptome und darüber, wie diese jedes normale Leben unmöglich machen – aber man sieht es nicht als schwere Erkrankung an. Es wird irgendwie auf Ihre Psyche, auf Ihr Verhalten geschoben. Man erklärt Ihnen, Sie seien eben antriebslos – auch wenn Sie Motivation für zehn haben, auch wenn Sie bei Beginn der Symptome gerade die beste Zeit Ihres Lebens hatten. Man erklärt Ihnen, Sie seien eben nach mildem Infekt dekonditioniert, auch wenn Sie vielleicht ein Profi-Sportler sind und Ihren Körper ganz genau einzuschätzen wissen. Oder man sagt Ihnen etwas ähnliches, was jedenfalls mit Ihrem Krankheitserleben und vor allem mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über ME/CFS absolut unvereinbar ist. Und dann passiert, während Ihr Körper krankheitsbedingt weiter verfällt, die Krankheit voranschreitet, Sie aus Ihrem eigenen Leben verschwinden, Sie natürlich auch in existenzielle Not geraten, Ihre Angehörigen mehr und mehr verzweifeln, Monat für Monat, Jahr für Jahr: nichts. Es passiert einfach gar nichts. Es gibt keine Hilfe. Keine Perspektive.

Es gäbe noch so viel mehr zu sagen, aber ich hoffe, dass klar geworden ist: wir brauchen eine Veränderung dieser Situation und zwar wirklich dringend. Das gilt gerade jetzt mehr als je zuvor, denn aufgrund der Corona-Pandemie kommen aktuell Neuerkrankungen in großer Anzahl hinzu. Bei einer Subgruppe von „Long-Covid“ handelt es sich eben um nichts anderes als um ME/CFS.

Abschließend noch ein ganz kurzer Punkt:
Mir ist bewusst, dass Sie als Abgeordnete immer das große Ganze im Blick behalten müssen und deswegen will ich auch den finanziellen Aspekt gleich ansprechen. Jede denkbare Maßnahme kostet Geld. Aber ich will betonen: Selbst rein wirtschaftlich ist das Vernünftigste, was Sie machen können: in Aufklärung und Forschung zu investieren. Denn die volkswirtschaftlichen Schäden aufgrund von ME/CFS sind ohnehin da und werden für Deutschland auf jährlich über 7 Mrd. EUR geschätzt. Die Krankheit trifft überwiegend junge Menschen, die häufig gerade erst ihre teure Ausbildung abgeschlossen haben, dann aber durch ME/CFS oft für den Rest ihres Lebens berufsunfähig und pflegebedürftig werden. Könnte man alle diese motivierten Menschen – und wir reden in der Summe ja über eine ganze Großstadt – in unsere Gesellschaft zurückholen, es gäbe so viel zu gewinnen. Die Forderungen unserer Petition weisen hierfür einen Weg und ich hoffe sehr, dass diese bei Ihnen auf Zustimmung stoßen!

Vielen Dank!




Stellungnahme zu den Einlassungen der Bundesregierung

Gesetzlicher Anspruch auf medizinische Versorgung

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 43:26 der Aufzeichnung): „[…] da möchte ich zum einen natürlich feststellen, dass Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung natürlich Anspruch haben auf eine angemessene medizinische Versorgung entsprechend dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand, und zwar die Versorgung, die notwendig und auch zweckmäßig ist.“

Wir können den Hinweis auf diesen Rechtsanspruch im Kontext der Anhörung nicht gut nachvollziehen. Denn, wie bereits der Begründung unserer Petition entnommen werden kann, besteht das Problem eben darin, dass ME/CFS-Betroffene regelmäßig keine medizinische Versorgung erhalten. Nicht ein fehlender Rechtsanspruch ist dabei das Problem, sondern dass dieser in der Realität für hunderttausende Schwerkranke einfach nicht verwirklicht wird. Ärztinnen und Ärzte, die ME/CFS nicht ernst nehmen, kein Bewusstsein für Art, Schwere und Komplexität der Erkrankung haben, mit dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht vertraut sind oder auch nur keinerlei Erfahrung im Umgang mit dieser komplexen Erkrankung haben, können im Rahmen bestehender Strukturen ME/CFS natürlich auch nicht diagnostizieren und erst recht nicht Betroffene angemessen versorgen oder gar therapieren.


An dieser Stelle macht sich das Fehlen jeder Art von Versorgungsstrukturen für ME/CFS besonders schmerzlich bemerkbar. Aus gutem Grund gibt es für vergleichbar schwerwiegende und komplexe chronische Erkrankungen Versorgungszentren mit erfahrenem und kenntnisreichem Personal, besondere Abrechnungsmöglichkeiten für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Disease-Management-Programme, evidenzbasierte Leitlinien und ähnliches. Dies alles gibt es für ME/CFS dagegen nicht. Die Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung sind mit diesem schwerwiegenden Krankheitsbild also völlig alleingelassen. Unter solchen Umständen kann eine „angemessene medizinische Versorgung“ schlichtweg nicht gewährleistet werden.


Hinzu kommt noch: Schwerer erkrankte ME/CFS-Betroffene sind nicht mehr in der Lage, ihre Wohnung oder auch nur ihr Bett zu verlassen. Da auch diese Patientinnen und Patienten mit dem Stigma von ME/CFS belastet sind, stoßen sie oft auf Unglauben und verlieren so jede Unterstützung und jeden Zugang zu medizinischer Versorgung. Diesen Betroffenen ist es dann nicht einmal mehr möglich, solche medizinischen Leistungen in Anspruch zu nehmen, die mit ihrer ME/CFS-Erkrankung unmittelbar gar nichts zu tun haben. Dies gilt bspw. für Leistungen der Zahnmedizin oder für Vorsorgeuntersuchungen.


Im vorliegenden Kontext muss auch noch einmal ganz allgemein auf die erhebliche Krankheitsschwere von ME/CFS hingewiesen werden. So ist gemäß einer dänischen Studie aus dem Jahr 2015 die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten sowohl im Durchschnitt wie auch im Median niedriger als die von bspw. Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten. Rund ein Viertel der ME/CFS-Betroffenen ist hausgebunden, viele sind sogar bettlägerig und es muss davon ausgegangen werden, dass rund 75 % arbeitsunfähig sind.


Krankheitsmodell von ME/CFS

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 43:26): „Aber gerade bei der ME/CFS ist es ja so, dass wir kein einheitliches Krankheitsmodell haben, das auch eine wissenschaftlich abgesicherte Standardbehandlung nach sich zieht, sondern die Behandlung, die Notwendigkeit der Behandlung ist wirklich von Einzelfall zu Einzelfall sorgfältig abzuklären, und der individuelle Hilfebedarf dann auch entsprechend zu planen und durchzuführen.“

Dazu muss festgehalten werden: Es ist mittlerweile wissenschaftlich gesichert, um was es sich bei ME/CFS jedenfalls nicht handelt: nämlich um eine psychische oder psychosomatische Erkrankung. Zudem ist ME/CFS klinisch klar definiert und die Betroffenen weisen somit einen gemeinsamen Kernbestand an Symptomen auf. Charakteristisches Merkmal der Erkrankung ist dabei die sog. „Post-Exertional Malaise“ (kurz: PEM), also die massive und völlig unverhältnismäßige Verschlechterung des Gesamtzustandes infolge der Überschreitung einer krankheitsbedingten Belastungsgrenze.


Die wissenschaftlich abgesicherte Standardbehandlung bei ME/CFS besteht auf dieser Grundlage in Krankheitsmanagement und symptomorientierter Therapie. Wie bereits erwähnt, haben ME/CFS-Betroffene zu solchen Leistungen aber regelmäßig keinen Zugang, das ist eines der ganz großen Probleme der Erkrankten und es ist zentrales Anliegen unserer Petition, dies zu ändern.


Das Vorhandensein eines wissenschaftlich abgesicherten „einheitlichen Krankheitsmodells“ ist dabei keine Voraussetzung für die Gewährleistung medizinischer Behandlung. Dies stellt das Beispiel der Multiplen Sklerose (MS) eindrucksvoll unter Beweis: Auch bezüglich dieses Krankheitsbildes ist der Pathomechanismus bislang ungeklärt, ferner gibt es insoweit ebenfalls keinen etablierten Biomarker, mit dessen Hilfe die Krankheit frühzeitig und für sich genommen nachgewiesen werden könnte. Dennoch gibt es für MS-Betroffene selbstverständlich Behandlungszentren und Therapieangebote. Weshalb im Gegensatz dazu bei ME/CFS auf das Fehlen eines „einheitlichen Krankheitsmodells“ verwiesen wird, erschließt sich uns daher in keiner Weise. Nur am Rande sei an dieser Stelle noch ergänzend angemerkt, dass die Zahl der von MS sowie von ME/CFS Betroffenen in Deutschland vergleichbar groß ist.


Wie ein individueller Hilfebedarf bei einer komplexen chronischen Erkrankung im Einzelfall auf Grundlage kassenärztlicher Regelversorgung „sorgfältig abgeklärt, geplant und durchgeführt“ werden könnte, wenn es für ME/CFS weder Expertise, Bewusstsein noch spezifische Abrechnungsmöglichkeiten oder Versorgungsstrukturen gibt, erschließt sich uns ebenfalls nicht (vgl. dazu insb. auch den nächsten Punkt). Die Realität sieht dementsprechend leider anders aus, nämlich wie zuvor beschrieben: Mit ME/CFS erhält man im Normalfall eben keine medizinische Versorgung.


Bausteine einer Behandlung

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 43:26): „[…] Sie wissen auch, dass die Inhalte bzw. die Behandlungsleistungen dabei im Verantwortungsbereich der Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung liegen und dabei die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen sind. […] Die Bausteine dieser Behandlung können ja total vielfältig sein, über die normale ärztliche Behandlung, über psychotherapeutisch unterstützende Behandlung mit Arzneimitteln, Heilmitteln, Hilfsmitteln, Rehabilitation und natürlich auch Leistungen der Pflegeversicherung.“

Diesbezüglich müssen wir zunächst feststellen, dass ME/CFS durch die angesprochenen Gremien der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen bislang genauso vernachlässigt worden ist wie durch praktisch alle anderen relevanten Institutionen. Auch und gerade in diesen Gremien fehlt es an Sensibilisierung und Wissen über Art, Schwere und Komplexität der Erkrankung. Dies wird schon daran deutlich, dass die gegenwärtigen Verhältnisse in Sachen ME/CFS insbesondere Ergebnis der Arbeit eben dieser Gremien sind. ME/CFS als häufige und schwerwiegende chronische Erkrankung ist bislang also durch alle Raster der Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitswesens gefallen und die Situation der ME/CFS-Betroffenen ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass sich keine Fachgesellschaft und auch sonst keine Institution des deutschen Gesundheitswesens für dieses große Patientenkollektiv verantwortlich fühlt. Die in anderen Ländern gerade in jüngerer Zeit in Form evidenzbasierter Leitlinien (näher dazu sogleich) zusammengetragenen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ME/CFS werden hierzulande weitgehend ignoriert. Diese Missstände sind der Grund, weshalb wir uns in Form der Petition 122600 mit der dringenden Bitte um Hilfe an den Deutschen Bundestag gewendet haben. Wird in einer solchen Ausnahmesituation von Seiten der Bundesregierung nur auf die Arbeit der Gremien der Selbstverwaltung verwiesen, würde das aber auf nichts anderes als auf ein Festhalten am gegenwärtigen Status quo hinauslaufen, der von ärztlicher Seite zu Recht schon als „humanitäre Katastrophe“ bezeichnet worden ist.


Betreffend die „vielfältigen Bausteine einer Behandlung“ sei noch einmal darauf verwiesen, dass ME/CFS-Betroffene bislang regelmäßig keine medizinische Versorgung erhalten können (vgl. o.). Nicht zuletzt würde die schon heute grundsätzlich mögliche symptomorientierte Therapie gute Diagnostik und gleichermaßen kenntnisreiche wie erfahrene Ärztinnen und Ärzte voraussetzen. Entsprechendes gilt im Ergebnis leider auch für Heilmittel und Hilfsmittel: Die Erfahrung zeigt, dass v. a. letztere in der Realität nur schwer oder gar nicht zu bekommen sind, wobei Stigmatisierung und Unwissenheit über Art, Schwere und Komplexität von ME/CFS eine wichtige Rolle spielen. Zudem muss noch einmal betont werden, dass die Erfüllung des individuell sehr verschiedenen und zugleich anspruchsvollen Bedarfs bei einer komplexen sowie zugleich häufigen und untererforschten chronischen Erkrankung wie ME/CFS im Rahmen der kassenärztlichen Regelversorgung realistischerweise auch einfach nicht erwartet werden kann, solange für ME/CFS keine gesonderten Abrechnungsmöglichkeiten und Versorgungsstrukturen vorhanden sind und kein breites Bewusstsein für das Krankheitsbild geschaffen worden ist. Zu den angesprochenen rehabilitierenden Maßnahmen ist festzustellen, dass es solche für ME/CFS derzeit nicht gibt.


Insbesondere sei abschließend erneut hervorgehoben, dass ME/CFS keine psychische oder psychosomatische Erkrankung ist. Leistungen der Psychotherapie können daher die wenigstens palliative Behandlung der Grunderkrankung keinesfalls ersetzen.


Leistungen der Pflegeversicherung, Versorgungsmedizin, soziale Absicherung

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 43:26): „Denn die Leistungen der Pflegeversicherung sind ja nicht abhängig von Ihrer Diagnose oder von Ihrem Krankheitsbild, sondern von den Einschränkungen, die Sie entsprechend haben.“

Durch diese Äußerung wird die Situation, in der sich ME/CFS-Betroffene befinden, leider völlig falsch dargestellt. Art, Schwere und Komplexität von ME/CFS werden derzeit von allen Stellen des Gesundheitswesens regelmäßig verkannt. Auch endet die in der Anhörung im Petitionsausschuss geschilderte Stigmatisierung von ME/CFS nicht schon deswegen, weil es nicht mehr um die Stellung einer Diagnose geht. Stigmatisierung und Unwissenheit wirken sich vielmehr auch dann – oder z. T. sogar erst recht – negativ aus, wenn es um die Beurteilung krankheitsbedingter Einschränkungen geht. Im Ergebnis bedeutet das für die ME/CFS-Betroffenen, dass sie regelmäßig größte Schwierigkeiten haben, einen angemessenen Pflegegrad oder auch einen angemessenen Grad der Behinderung sowie Erwerbsminderungsrenten zuerkannt zu bekommen. Eine spezifische Herausforderung ist im Zusammenhang mit ME/CFS dabei insbesondere auch die dynamische Veränderung des Symptombildes: Die tatsächliche Schwere der krankheitsbedingten Beeinträchtigungen kann im Rahmen einer kurzen Begutachtung regelmäßig nicht unmittelbar erfasst werden und würde daher in ganz besonderem Maße ein Verständnis des Krankheitsbildes voraussetzen, auch wenn es gerade nicht um Diagnose oder Therapie von ME/CFS geht.


Eine Ärztin, die selbst lange in der Versorgungsmedizin gearbeitet hat, schilderte die dort übliche Vorgehensweise in Sachen ME/CFS so:
Einarbeitung: ME/CFS unter Psyche verorten, erst mal [GdB] 20 geben, bei Widerspruch ggfls. [GdB] 30. Erst durch meine eigene Erkrankung habe ich verstanden, dass diese internen Vorgaben der blanke Hohn sind.“


Die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung zu ME/CFS, die einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage im Jahr 2019 entnommen werden können, legen das Problem ebenfalls offen: Zu diesem Zeitpunkt gab es seit 2010 jährliche Rentenzugänge in eine Erwerbsminderungsrente wegen ME/CFS (ICD-10-Diagnoseschlüssel G93.3) in einer Anzahl zwischen 41 und 206. In Summe wurden für den genannten Zeitraum von annähernd 10 Jahren 930 Zugänge gemeldet. Im Kontrast dazu müsste tatsächlich aber eine sechsstellige (!) Anzahl von Menschen mit ME/CFS in Deutschland eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Die Zahl von lediglich 930 Zugängen im Berichtszeitraum ist damit offenkundig unvereinbar und unterstreicht somit, auf welche unüberwindlichen Hürden ME/CFS-Betroffene stoßen, die gezwungen sind, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen.


Medizinische Leitlinien

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 53:34): „[…] ich muss vielleicht einfach noch mal klarstellen, dass für die Erarbeitung der leitliniengerechten Versorgung weder die Bundesregierung noch die Politik oder der Bundestag verantwortlich ist, sondern Leitlinien werden von den Fachgesellschaften entsprechend erarbeitet.“

Wie zuvor bereits dargelegt, gibt es in Deutschland aktuell keine medizinische Fachgesellschaft, die sich für ME/CFS als Multisystemerkrankung zuständig fühlt. Dementsprechend gibt es hierzulande derzeit auch keine evidenzbasierte Leitlinie für ME/CFS. Dies steht in starkem Gegensatz dazu, dass im Ausland auf dem Feld von ME/CFS zuletzt umfangreiche Leitlinienprojekte durchgeführt worden sind. Als Beispiel sei auf die vom britischen NICE (National Institute for Health and Care Excellence) am 29. Oktober 2021 veröffentlichte Leitlinie „Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: diagnosis and management“ verwiesen, in der auf fast 90 Seiten die vorhandene Evidenz zur Diagnose und zum Krankheitsmanagement von ME/CFS zusammengefasst ist.


Das mangelnde Interesse von Fachgesellschaften an ME/CFS korrespondiert damit, dass es in der deutschen Medizin derzeit insgesamt noch an Expertenwissen zu ME/CFS fehlt. Diese Umstände sind der Grund, weshalb wir uns mit der dringenden Bitte um Hilfe an den Deutschen Bundestag gewendet haben. Die Politik hat insoweit zwar nicht die Möglichkeit, die Fachgesellschaften unmittelbar zum Tätigwerden zu veranlassen. Wohl aber hätte die Politik die Möglichkeit, durch breitenwirksame sowie durch zielgruppenorientierte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen diesen Zustand zu verändern. Der bloße Verweis auf eigene Unzuständigkeit hat dagegen die Aufrechterhaltung des Status quo zur Folge.


Ergänzung von § 116b SGB V

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 57:45): „[…] ich glaube nicht, dass wir eine Änderung des § 116b SGB V brauchen. Das ist absichtlich eine offene Liste und der Gemeinsame Bundesausschuss ist in seiner Ausgestaltung da schon flexibel und kann da auch auf Antragstellung entsprechend erweitern, um die ME/CFS, und ich würde da wirklich den Petenten empfehlen, sich über eine Trägerorganisation oder auch über die Patientenvertretung entsprechend an den Gemeinsamen Bundesausschuss zu wenden.“

Nach § 116b Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) „die Diagnostik und Behandlung komplexer, schwer therapierbarer Krankheiten, die je nach Krankheit eine spezielle Qualifikation, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und besondere Ausstattungen erfordern.“ Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hebt bezüglich der ASV besonders hervor, diese Modalität der Leistungserbringung ermögliche, dass „Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte sektorenübergreifend in interdisziplinären Teams zusammenarbeiten, um gemeinsam und koordiniert die Behandlung der angesprochenen Patienten zu übernehmen.“ Alle gesetzlichen Voraussetzungen der ASV liegen im Fall von ME/CFS geradezu idealtypisch vor. Insbesondere ist hervorzuheben, dass ME/CFS als komplexe Multisystemerkrankung eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in ganz besonderem Maße erforderlich macht. Hinzu kommt, dass die Betroffenen aufgrund ihrer krankheitsbedingten Beeinträchtigungen häufig nicht mehr in der Lage sind, aus eigener Kraft eine Reihe von isolierten Facharztterminen zu planen und zu absolvieren. Die durch die ASV ermöglichte koordinierte interdisziplinäre Behandlung der Patientinnen und Patienten hätte somit gerade bei ME/CFS-Betroffenen besondere Bedeutung. Auch spricht der gegenwärtige Mangel an Ärztinnen und Ärzten mit Kenntnissen über und mit Erfahrung im Management von ME/CFS für die Aufnahme in die ASV, da dieser Versorgungsbereich die Bündelung der in Krankenhäusern und bei niedergelassenen Ärzten bereits vorhandenen Expertise erlauben würde. Nicht zuletzt könnte eine Aufnahme in den Katalog des § 116b Abs. 1 SGB V als Anreiz und Grundlage für die Etablierung der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Behandlungszentren dienen.


Selbstverständlich war uns bei Einreichung unserer Petition an den Deutschen Bundestag auch bewusst, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gem. § 116b Abs. 5 SGB V den Katalog des § 116b Abs. 1 S. 2 SGB V ohne Zutun des Gesetzgebers ergänzen könnte. Dies kommt aber hier aus verschiedenen Gründen nicht als sachangemessene Lösung des vorliegenden Problems in Betracht. Insbesondere können wir auch die Empfehlung der Parlamentarischen Staatssekretärin Dittmar, wonach wir uns als Betroffene und Petenten mit einem entsprechenden Ansinnen an den G-BA wenden sollten, nicht gut nachvollziehen. Dazu muss festgehalten werden:
Es ist erstens bereits schlichtweg nicht unsere Aufgabe als schwerkranke und hilfsbedürftige Patientinnen und Patienten, die Gremien der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zu solchen Tätigkeiten aufzufordern und anzuhalten, denen sie im Bereich von ME/CFS schon seit Jahrzehnten nicht nachgekommen sind. Zweitens werden Beschlüsse im G-BA mit Stimmenmehrheit gefasst, erfordern also mindestens sieben Stimmen. Patientenvertreter haben im G-BA dabei allerdings gar kein Stimmrecht. Wie bereits dargestellt, mangelt es im deutschen Gesundheitswesen zudem flächendeckend an Verständnis für und Wissen über Art, Schwere und Komplexität von ME/CFS. Es muss vor genannten Hintergründen daher als vollkommen illusorisch angesehen werden, dass auf diesem Weg in absehbarer Zeit die notwendigen Stimmen eingeworben werden könnten, um einen Beschluss des G-BA betreffend die Aufnahme von ME/CFS in die ASV herbeizuführen. Nicht zuletzt wurde von Frau Professorin Scheibenbogen in der Anhörung am 14. Februar auch berichtet, dass sie den unparteiischen Vorsitzenden des G-BA bereits mehrfach auf die untragbare Situation der ME/CFS-Betroffenen aufmerksam gemacht hat.
Drittens haben wir als Betroffene darüber hinaus praktisch gar keinen Zugang zum G-BA, da leider bei den Patientenvertreterinnen und Patientenvertretern im G-BA derzeit gleichermaßen kein Bewusstsein für unsere verheerende Situation besteht. Wie bereits dargestellt, sind die ME/CFS-Betroffenen bislang durch alle Raster unseres Gesundheitssystems gefallen und befinden sich daher in einer Situation, die im Rahmen der bestehenden Regelungen und Institutionen nicht vorgesehen ist. In dieser Notlage haben wir uns auf Grundlage von Art. 17 GG mit der dringenden Bitte um Hilfe an den Deutschen Bundestag gewandt. Dieses Anliegen unter Verweis auf eine leider nur theoretische Möglichkeit des Tätigwerdens der Gremien der Selbstverwaltung abzulehnen, würde also ebenfalls die Aufrechterhaltung des Status quo auf unabsehbare Zeit zur Folge haben.


In diesem Kontext muss noch einmal die Dringlichkeit einer Verbesserung der Situation der an ME/CFS Erkrankten betont werden: Diese ergibt sich nicht nur aus der aktuell großen Anzahl neuer Fälle infolge der Corona-Pandemie, sondern insbesondere auch daraus, dass ME/CFS-Betroffene häufig schon seit vielen Jahren oder gar seit Jahrzehnten schwer krank sind, ohne Zugang zu auch nur einigermaßen adäquater Gesundheitsversorgung zu haben. Eine Folge davon ist, und dabei handelt es sich zugleich um einen der bittersten Aspekte dieser Erkrankung überhaupt: Viele ME/CFS-Betroffene suizidieren sich, sofern sie es überhaupt noch können, so dass Suizid heute eine der häufigsten Todesarten bei ME/CFS ist. Internationale Studien haben insoweit gezeigt: Ursache hierfür ist eben nicht in erster Linie das krankheitsbedingte Leid, sondern es sind insbesondere Stigma und Vernachlässigung der Erkrankten. Dies unterstreicht: In Sachen ME/CFS muss jetzt sofort gehandelt werden, jeder weitere Monat des Abwartens verursacht unnötiges Leid und kostet vermeidbar Leben. Unter diesen ganz besonderen Umständen halten wir eine Ergänzung des Katalogs von § 116b Abs. 1 S. 2 SGB V um ME/CFS von Seiten des Gesetzgebers weiterhin für dringend geboten.


Resolution des EU-Parlaments vom 18. Juni 2020

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 1:02:47): „Das ist einmal, dass Forschung und Aufklärung beauftragt worden ist, aber die Resolution bzw. die Petition beim Europaparlament hat sich ja vor allem auch auf den Ausbau der biomedizinischen Forschung konzentriert.“

Dazu möchten wir hervorheben, dass die annähernd einstimmig verabschiedete Resolution des Europäischen Parlaments vom 18. Juni 2020 sich tatsächlich nicht auf den Ausbau der biomedizinischen Forschung beschränkt, sondern die Mitgliedstaaten auch darüber hinaus zum Tätigwerden auffordert. Diese Maßnahmen schließen insbesondere Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen ein, wie sie auch Gegenstand unserer Petition sind. Dazu folgender Auszug:


„Das Europäische Parlament, […]
Q. in der Erwägung, dass es offenkundig einer besseren Anerkennung dieser Art von Krankheiten auf der Ebene der Mitgliedstaaten bedarf; in der Erwägung, dass spezifische gezielte Schulungen bereitgestellt werden sollten, um die Behörden, die Erbringer von Gesundheitsleistungen und Amtspersonen allgemein hierfür zu sensibilisieren; […]

  1. betont, dass innovative Projekte durchgeführt werden müssen, mit denen für eine koordinierte und umfassende Datenerhebung zu dieser Krankheit innerhalb der Mitgliedstaaten gesorgt werden kann, und fordert eine verpflichtende Berichterstattung in allen von ME/CFS betroffenen Mitgliedstaaten;
  2. fordert alle Mitgliedstaaten auf, entschlossen die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dafür zu sorgen, dass ME/CFS die gebührende Anerkennung findet; […]
  3. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen für Fachkräfte des Gesundheitswesens und für die Öffentlichkeit ins Leben zu rufen, um die Bevölkerung auf die Existenz und die Symptome von ME/CFS aufmerksam zu machen; […].“

Förderrichtlinie des BMBF aus dem Jahr 2020

Frau Parl. StS Sabine Dittmar (ab 1:02:47): „Das Bundesforschungsministerium hat eine Förderrichtlinie schon aus dem Jahr 2020: Interdisziplinäre Verbünde zur Erforschung von Pathomechanismen. Und das ist eben um ein Modul ergänzt worden, das dann auch explizit die Forschung zur Myalgischen Enzephalopathie und dem Chronischen Fatigue-Syndrom gefördert werden kann. Wie gesagt, im Januar ging das Ganze auch an die Charité in Berlin.“

Wir begrüßen die avisierte Förderung eines Verbundes zur Erforschung der Pathomechanismen von ME/CFS durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sehr. Wir müssen aber auch betonen, dass es sich hierbei nur um einen „Tropfen auf den heißen Stein“ handelt, wie es von Frau Professorin Scheibenbogen während der Anhörung am 14. Februar schon näher erläutert worden ist. Dazu möchten wir ergänzen, dass das „Wissensdefizit und der sich hieraus ergebende Forschungsbedarf“ betreffend ME/CFS bereits durch die „Arbeitsgruppe CFS im Bundesgesundheitsministerium“ im Jahr 1994 festgestellt worden war. Dennoch gab es für ME/CFS bis zum Jahr 2021 keinerlei spezifische Forschungsförderung aus öffentlichen Mitteln. Infolgedessen hinkt der aktuelle Wissensstand bezüglich ME/CFS dem Stand bei anderen, vergleichbar schweren wie häufigen, Erkrankungen viele Jahrzehnte hinterher. Um diesen Rückstand aufzuholen, bedarf es nun dringend einer krankheitsspezifischen und zielgerichteten Forschungsförderung in deutlich größerem Umfang. Betont sei noch einmal, dass die durch ME/CFS verursachten volkswirtschaftlichen Schäden selbst auf Grundlage der konservativen Prävalenzschätzungen vor Beginn der Corona-Pandemie alleine für Deutschland einen jährlichen Umfang von über 7 Mrd. EUR aufweisen. Könnte die durch ME/CFS verursachte Krankheitslast dank wissenschaftlicher Fortschritte nur um bescheidene 10 % reduziert werden, würde dies also bereits positive volkswirtschaftliche Effekte von mehr als 700 Mio. EUR pro Jahr zur Folge haben.


Zum Vergleich sei auch auf ein in den Niederlanden durch ZonMw aufgelegtes Sonderforschungsprogramm für ME/CFS verwiesen, das bei einer Laufzeit von 2021 bis 2031 ein Budget von 28,5 Mio. EUR umfasst. Auf die Einwohnerzahl von Deutschland übertragen, würde dies einem Forschungsprogramm im Gesamtumfang von 135 Mio. EUR, also einem Jahresbudget von 13,5 Mio. EUR, entsprechen.


Zusammenfassung und weitere Anregungen

ME/CFS ist eine häufige chronische Erkrankung, die zu ungewöhnlich schwerwiegenden Beeinträchtigungen führt und für die bislang keine kurativ wirksamen Behandlungsansätze zugänglich sind. Zusätzlich haben die Betroffenen mit einer starken Stigmatisierung ihrer Erkrankung sowie einem immer noch weit verbreiteten Unwissen über Art, Schwere und Komplexität von ME/CFS zu kämpfen. Als Folge all dieser Umstände haben die Patientinnen und Patienten oftmals keinen Zugang sogar zu vermeintlich selbstverständlicher medizinischer Basisversorgung und erst recht nicht zu einer fachlich qualifizierten symptomorientierten Behandlung ihrer Erkrankung, wie sie auch nach heutigem Wissensstand bereits möglich wäre.


ME/CFS ist bislang durch alle Raster unseres Gesundheitswesens gefallen. Die Existenz einer gleichermaßen schwerwiegenden wie häufigen chronischen Erkrankung, für die sich aber keine Fachgesellschaft und auch keine Fachdisziplin verantwortlich fühlt und für die daher bis heute keinerlei Versorgungsstrukturen, Leitlinien oder auch nur Problembewusstsein besteht, ist in unserem System einfach nicht vorgesehen. Aufgrund dieser großen Notlage haben wir Betroffene uns mit einem Hilferuf an den Deutschen Bundestag gewendet.


In einer solchen Ausnahmesituation darf zur (vermeintlichen) Lösung des Problems nicht auf Zuständigkeiten anderer oder auf diejenigen Institutionen und Prozesse verwiesen werden, die uns in den vergangenen Jahrzehnten in diese verheerende Lage gebracht haben. Würde so verfahren werden, käme dies einer Aufrechterhaltung des Status quo gleich. Vielmehr muss nun von der Politik mit den verfügbaren Mitteln entschlossen gehandelt werden, um eine schnelle und nachhaltige Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen. Zu diesen Handlungsoptionen gehören, wie von unserer Petition gefordert:

  1. Zeitnahe Durchführung breitenwirksamer und zielgruppenorientierter Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen zu ME/CFS, wie auch in der Resolution des Europäischen Parlaments vom 18. Juni 2020 angemahnt.
  2. Ergänzung des Katalogs von § 116b SGB V um ME/CFS durch Gesetzgebungsakt des Deutschen Bundestages.
  3. Krankheitsspezifische und zielgerichtete Forschungsförderung für ME/CFS in einem Umfang, der die erhebliche Krankheitslast, die aktuell stark zunehmenden Fallzahlen und den großen Nachholbedarf angemessen berücksichtigt.
  4. Dauerhaftes politisches Engagement von Seiten des Deutschen Bundestages.

Die Situation der ME/CFS-Betroffenen ist heute jedenfalls im Ergebnis in mancherlei Hinsicht mit der Situation der HIV-Positiven bzw. an AIDS Erkrankten in den 1980er Jahren vergleichbar. Beide Betroffenenkollektive hatten bzw. haben mit starker Stigmatisierung, fehlenden Behandlungsansätzen und mit Vernachlässigung sowie mangelnder gesellschaftlicher Bereitschaft, sich für die Patientinnen und Patienten einzusetzen, zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund könnte als Vorbild für weitere Aktivitäten insbesondere das „Sofortprogramm AIDS der Bundesregierung“ aus dem Jahr 1987 dienen (jährliches Finanzvolumen: 135 Mio. DM), ebenso die damaligen Aufklärungskampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die in Kooperation mit Betroffenenvertretern durchgeführt worden sind. Besonders hervorzuheben ist, dass diese Kampagnen insbesondere auch darauf zielten, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das eine Stigmatisierung Erkrankter verhindern möge. Zu einer solchen Kampagne der BZgA gehörte auch die folgende Anzeige aus dem Jahr 1987, deren Text beinahe unverändert auf ME/CFS übertragen werden könnte.

Anzeige der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 1987.
Mögliches Motiv einer vergleichbaren Anzeige im Rahmen einer Aufklärungskampagne über ME/CFS.

Unsere Stellungnahme kann mit weiteren Nachweisen an dieser Stelle heruntergeladen werden (pdf-Dokument).




Wie geht es weiter?

Der Petitionsausschuss wird sich nun entsprechend seiner Verfahrensgrundsätze weiter mit unserer Petition befassen, bis es dann zu einem abschließenden Beschluss über unsere Anliegen kommt. Dies wird voraussichtlich in einigen Monaten der Fall sein. Selbstverständlich hoffen wir darauf, dass der Ausschuss unsere Petition mit möglichst großer Mehrheit als vollumfänglich begründet ansehen und der Bundesregierung zur Berücksichtigung überweisen wird.